Ausgangssituation: Am 06.04. haben wir unser Projekt in Benin, Westafrika gestartet. Die Zeit davor war ich noch auf verschiedenen Veranstaltungen, zuletzt vom 01.-03.04. auf der re:publica in Berlin. Schon seit längerem mache ich mir Gedanken darüber, das einerseits die „Web2.0 – Welt“ zunehmend so dargestellt wird, als wäre sie schon im Mainstream angekommen. Ich andererseits aber feststelle und von vielen Menschen um mich herum mitbekomme, dass dem nicht mal ansatzweise so ist. Die Medien berichten von verschiedenen Veranstaltungen (Barcamps), oder über Twitter, Blogs usw. usf. Da hat man als AKTIVER Internetnutzer schnell das Gefühl, das Web2.0 sei in der breiten Gesellschaft angekommen.
Doch ist dem wirklich so? Und wenn ja, wie geht es weiter? Und wenn Nein, warum nicht? Konsumieren wir doch lieber, statt unsere Welt aktiv selbst zu gestalten?
Der Selbstversuch: In Benin konnte ich wegen der schlechten Internetverbindungen nicht sehr viel am „Webleben“ teilnehmen und so habe ich mich entschlossen einfach loszulassen. Loslassen bedeutete für mich, nur noch die beruflichen Emails zu checken. Kein Socialnetworking, kein Twitter, keine Kommentare, keine RSS Feeds… Das war die ersten Tage wirklich nicht einfach! Aber bei den extrem langsamen Verbindungen im Cybercafé (wenn es eins gab) auf alle meine Accounts zuzugreifen, war einfach der Alptraum schlechthin. Also habe ich losgelassen… einfach mal testen wie das so ist, nicht „always on“ zu sein.
Zunächst war es mit einem schlechten Gewissen verbunden. Wir wollten ja soviel wie möglich live über das Projekt bloggen, sodass unsere Follower das Projekt täglich mitverfolgen können. Aber schon nach kurzer Zeit war es auch irgendwie befreiend. Mal nicht alles und sofort zu bloggen, dem Network mitzuteilen, zu twittern. Was bedeutet das nun wieder?
Ich kann und möchte dieses Phänomen nicht aufgrund der Erfahrungen in Benin bewerten. Das war eine besondere Situation, in einem Land, wo man sich leicht „ausklinken“ kann, da außer in den Städten sowieso nur selten Internet vorhanden ist.
Also habe ich den Selbstversuch verlängert und auch nach Benin, seit dem 18.04. – zurück in der DSL-Welt – das Internet mehr konsumiert als mitgemacht. Mittlerweile sind es genau 4 Wochen. Mit konsumieren meine ich: Nur Emails checken und beantworten, so gut wie keine tweets, sehr wenig Kommentare in Blogs, RSS ignorieren, minimales Socialnetworking (Xing, Facebook, diverse mixxt-Plattformen usw.) – also wie damals, als das Internet noch keine (oder nur sehr wenige) Mitmachfunktionen zu bieten hatte.
Nach 4 Wochen: Ich habe in dieser Zeit folgendes feststellen können: Ich fühle mich weniger informiert, aber nicht uninformiert. Besseren Wissens (?) habe ich das Gefühl etwas Wichtiges verpassen zu können. Ich habe viel deutlicher mitbekommen, dass das Web2.0 „hier draußen“ sehr häufig als etwas sehr exotisches wahrgenommen wird. Vorbehalte und Ängste sind nicht wenige vorhanden. Vom Web2.0 im Mainstream angekommen keine Spur. Der Zeitaufwand ist für sehr viele Menschen DAS Argument, um den Möglichkeiten des Mitmachnetzes fern zu bleiben (TV geht aber gut, dafür ist Zeit vorhanden). Zeitersparnis kann ich für mich selbst nicht wirklich feststellen, da ich mich in der webfreien Zeit mit anderen Dingen beschäftige, die mich interessieren. Die Tage haben immer noch 24 Stunden.
Wie geht es weiter? Ich bin dabei meine Erfahrungen (2.0) für mich zu reflektieren, mit dem Ziel, die Nutzung des Internets optimal auf mein Leben abzustimmen. Das Internet ist weder gut noch schlecht. Wer das postuliert hat (noch) nicht verstanden, das eine Sache immer wertneutral ist! Die Frage ist, was wir daraus machen, wie wir es einsetzen, für was wir es nutzen. Wir geben den Dingen die Bedeutung!
Ich gebe dem Internet eine große Bedeutung im Zusammenhang mit Veränderungen im Bildungsbereich, des Arbeitslebens und dem gesellschaftlichen Zusammenleben überhaupt. Viele Projekte im Bereich Bildung 2.0, Enterprise 2.0, Politik 2.0 usw. usf. zeigen auf, dass hier riesiges Potenzial vorhanden ist, in allen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens (global!) etwas zu bewegen, neue Wege zu gehen. Alle suchen und fordern neue Wege für die Veränderung unserer Gesellschaft. Nehmen wir diese Chance wahr. Jeder für sich und wir alle im NETZWERK zusammen! Zusammen? Genau hier liegt die große Herausforderung.
Damit ein Zusammen im großen Stil möglich wird, gilt es die Brücken zu bauen, um wirklich in der breiten Gesellschaft anzukommen. Und da sind, meiner Meinung nach, nicht noch mehr Tools oder Angebote im Internet notwendig, sondern vielmehr ein Aufeinanderzugehen. Wenn die breite Masse noch nicht im Web2.0 angekommen ist, dann muss man vielleicht zunächst erst wieder zurück ins Offline-Leben (oder 1.0 Leben), wie können wir die Menschen sonst erreichen?
Was wir auf jeden Fall brauchen ist ein Verständnis für „beide Welten“ und da tun sich die Einen, wie die Anderen häufig schwer bzw. bleibt es dann meist dabei die eigene Welt, als die Bessere darzustellen. Schade.
Ausblick: Ich bleibe hier dran und (um in der Web2.0 Sprache zu sprechen) baue mir mein persönliches „neuronales gadget“ für ein Leben zwischen den Welten und Mittendrin… Mein Fazit bisher: Es ist weder gewinnbringend, wenn sich die Einen permanent feiern (lassen), als DIE Wissenden und einzig Wahren überhaupt, noch bringt es etwas sich an anderer Stelle gegen alles Neue verschließen zu wollen. Ich denke hier können wir noch einiges dazu lernen. Für eine gemeinsame Zukunft, wie WIR Sie uns wünschen!
To be continued.
Ich habe etwas gegen die Aussage, Sachen seien „immer wertneutral“. Daumenschrauben sind es nicht, Atombomben auch nicht, selbst bei Atommeilern eines bestimmten leicht außer Kontrolle geratenden Typus darf man zweifeln, ob sie wertneutral sind.
Wie steht es mit Bildersammlungen zu Kinderpornographie? Es kommt immer nur darauf an, was wir daraus machen?
Medien sind etwas anderes als Sachen. „Das Medium ist die Botschaft“ postuliert freilich, dass selbst Medien nicht in jeder Hinsicht neutral seien. Das will ich nicht behaupten, doch scheue ich vor allzu allgemeinen Aussagen zurück.
Sehr spannendes Thema. Und besonders schön finde ich, die Reflexionen mit einem eigenen Erlebnis des Autors verknüpft präsentiert zu bekommen. (Das ist übrigens ein Beispiel dafür, wie Kommunikationsmedien Einfluss auf Formen der Kommunikation nehmen. Die persönliche Erzählung als Reflexionsform über gesellschaftlich bedeutsame Inhalte – die gibt es massenhaft und öffentlich wirksam so erst seit der Erfindung des Weblogs).
Wie man lernt, mit dem Unterschied zwischen virtueller Realität und handgreiflicher real world zurecht zu kommen ist ein gesellschaftlich bedeutsamer Gegenstand. Da muss jeder Einzelne lernen, das Leben mit dem Medium (Internet 2.0) für sich sinnvoll zu gestalten. Das ist die individuelle Seite. Dazu sagte mir mein Sohn, der WOW-extensiv-Spieler der ersten Stunde war: „Ich habe das gebraucht, um zu lernen, wie ich mir mein Leben im switch gestalte und alle meine Interessen und Bedürfnisse selbstbestimmt unterbringe und priorisiere, ohne dass ich mich in einer Sache verliere“. Das ist die Herausforderung durch das Medium. Insofern ist es nicht neutral, als es dazu zwingt, etwas lernen zu müssen, was diejenigen, die sich gar nicht erst hineinbegeben, nicht lernen müssen, aber dann auch nicht lernen können und immer auf face-to-face-Kommunikation angewiesen bleiben. (So, wie etwa Analphabeten immer auf ihr Gehör angewiesen sind.) Und die Menschheit global muss es auch lernen, indem sie dieses Medium für ihre Weltgesellschaftsprobleme als Ganze nutzen lernt, um die alten nationalen und ethnischen Grenzen unwesentlich werden zu lassen. Da haben wir wohl noch einen langen Entwicklungsweg vor uns. Ich sehe in OLPC in Uruguay – einen Schritt. Ich sehe in den ersten gelungenen Experimenten von politik 2.0 mit mybarakobama.com einen anderen Schritt (oder die Vertwitterung von e-Petitionen für den Bundestag). Und so wird es noch viele Schritte geben, die immer mehr Menschen mittun werden.
@apanat mit „message“ ist von McLuhan nicht gemeint gewesen der Kommunikations-Inhalt, den das Medium bestimmen würde. Aber es bestimmt die Formen. Und Formen sind ohne Inhalt nicht möglich. Mit dem Internet kann sich die Menschheit potenziell vernichten ebenso wie sie sich damit auf der anderen Seite potenziell vor ihrer Selbstvernichtung retten kann. Insofern ist das Kommunikations-Medium absolut wertneutral. Mit der Bombe kann man nur vernichten, sie ist zu diesem Zweck gebaut. Aber eine Bombe ist auch kein Kommunikationsmedium.
Hi Alexander,
und ich frage mich schon die ganze Zeit, wo du geblieben bist. 🙂
Ich respektiere natürlich deine Entscheidung, wieder eher Konsument zu sein. Aber einen Haken hat die Sache: Ich vermisse dich und deine guten Kommentare! Sie waren immer ein wertvoller Baustein in unserer gemeinsamen Wissenskonstruktion. 🙁
Liebe Grüße,
Christian
@apanat das Internet als Werkzeug ist wertneutral. Wir (Menschen) machen die Inhalte, nicht das Internet selbst! Die Atombombe wurde gebaut, weil es technisch möglich wurde – doch hat die Technik die Bombe gebaut? Ein Photoapparat ist ein Werkzeug – wer macht die Photos?
Das Internet als Medium ist für mich zunächst neutral, wir füllen es mit Inhalten und dann bekommen diese die Bedeutung, die wir dem Inhalt geben.
Im Web2.0 haben wir die Möglichkeit die Inhalte zu bewerten. Das merken z.B. die großen Medienhäuser sehr stark. Hier sehe ich die große Chance, dass das Internet – die Technik – nicht zu dem missbraucht werden kann, wie wir es von vielen anderen Beispielen her kennen.
Hier können wir uns als User (noch) frei bewegen und dazu beitragen, die Technik positiv zu nutzen! Ich hoffe nur, dass die „Zensursula“ nicht der Anfang vom Ende des freien Internets ist.
@Christian Das ist ein Selbstversuch, keine Entscheidung auf Dauer 😉 Danke!
@Lisa Rosa Ich sehe das genauso wie du, dass wir zunächst lernen müssen mit diesem Medium umzugehen. Da ist vieles Neu. Auf einmal wird es sehr leicht möglich aktiv an der Gestaltung unseres gesellschaftlichen Lebens teilzuhaben. Schüler, Lehrer, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Politiker, Bürger… alle können sich beteiligen. Die Wege sind kürzer, direkter, in realtime. Es heißt ja auch das Mitmach-Internet, man könnte es auch das Mitmach-Leben nennen.
Viele überfordert das, manche haben Bedenken oder Angst – sehr viele tun schon etwas und haben großen Erfolg damit.
Was die Weltgesellschaftsprobleme betrifft, so hatten wir noch niemals eine größere Chance uns anzunähern, uns für eine gemeinsame Welt zu engagieren.
Aber als Konsument wird das schwierig 😉
Das ist ja ein echt interessanter Selbstversuch. Ich wäre im Leben nicht darauf gekommen, dass man das Web2.0 wieder verlassen kann 🙂
Da ich Teil einer verfolgten Minderheit bin (und irgendwie auch stolz darauf) weiß ich gar nicht, ob ich überhaupt im Mainstream ankommen wollen würde. Was würde der Mainstream daraus machen? Eine Profanisierung? Aber gute Ideen kommen irgendwann immer in den Mainstream… und werden dort transformiert. Vielleicht ist es deswegen gut, dass es immer länger braucht, bis der Mainstream sich bewegt, da hat die gute Idee noch ein bisschen Zeit zu reifen.
Danke für das Experiment.
@1000Sunny: Das Web2.o verlassen geht auch nur, wenn man in Afrika keinen Zugang hat ;-)) Sich etwas zurücknehmen geht schon eher, wobei es nicht so leicht fällt…
Mit dem Mainstream das ist so eine Sache und hängt sehr mit der Definition desselbigen zusammen! Letzten Endes sind wir alle Mainstream. Ich sehe das (Internet) als eine große Chance und denke der “Mainstream” kann und wird hier einiges in der Gesellschaft bewegen. Wie du selbst geschrieben hast braucht es dazu noch Zeit und das ist auch gut so. So kann nach und nach etwas Neues entstehen, sich ent-wickeln.
Selbstversuch? http://cspannagel.wordpress.com/2010/05/03/things-change/
things change – kommunikation hört nie auf!
@Alexander
Ich finde deinen Eintrag im Zusammenhang mit Christians Entscheidung sehr hilfreich. Jeder muss selbst entscheiden, wie er mit diesem (gefährlichen) Instrument umgeht. Als gieriger, tendenziell süchtiger Mensch muss ich immer mit meinen eigenen Besessenheiten verhandeln. Ob im Internet oder außerhalb. Das ist ein Lernprozess, der manchmal sehr lange dauern kann.
Genau so ist das. Das Instrument ist nicht gefährlich (wertfrei) – wir Menschen geben den Dingen die Bedeutung und auch wir sind es, die die „Dinge“ zu gefährlichen oder gewinnbringenden Entwicklungen einsetzen… Wir haben immer die Verantwortung, wir entscheiden darüber (…) – nicht nur in und mit dem Internet…