Ein neues Ja? Das wäre doch mal etwas! Noch jung ist das Neue, vergangen das Alte. Es ist viel passiert, man kann es lesen, überall, sogar im Internet. Viele Menschen resümieren darüber was war, was ist, was kommen wird. Gute Vorsätze, kluge Vorausschauen, interessante Rückblicke. Geschrieben, irgendwo da draussen.
Ich lese das und denke mir, alles wie immer? Woran liegt das?
Natürlich habe ich nicht alles gelesen, aber über das, was mich die letzten Jahre umtreibt, was mir Hoffnung gegeben hat, worin ich eine große Chance gesehen habe (und sehe), die Gesellschaft in der wir leben, von Grund auf zu verändern:
Das leben und wirken mit und im Internet (digital&analog//drinnen&draussen).
Ein Netz aus Menschen, die sich verbinden, um eine Welt zu kreieren, die jenseits der politischen und wirtschaftlichen Interessen der Regierungen entstehen soll. In der die Bedürfnisse des Einzelnen und der Gemeinschaft im Mittelpunkt stehen. Das damals noch so genannte Web 2.0 war (und ist für mich immer noch) eine Art Blaupause dafür, wie wir eine Welt gestalten können, in der die Menschen zeitgemäß leben dürfen.
Eine Utopie, eine Vision von einer besseren Welt.
Wir wollten Aufmerksamkeit, wollten dass die Organisationen, Unternehmen, politischen Organe, die Medien usw. usf. uns sehen, die Chancen für eine neue Welt auch erkennen und mitmachen. Wir waren voller Hoffnung. Naiv.
Jetzt sind sie alle da.
Und? Was haben wir erwartet? Love&Peace? Die große Veränderung? Mehr Menschlichkeit, weil wir gesehen und erfahren hatten, dass es möglich ist? Das eine andere Welt durchaus im Bereich des Möglichen liegt – wenn „wir“ nur wollen? (!). Ein Paralleluniversum (?). Vielleicht.
Ich denke es hat so gut funktioniert – das mit dem Ernst nehmen der Menschen und ihrer Bedürfnisse mit- und untereinander – weil es eine Gruppe von vielen Menschen weltweit waren, die genau das wollten.
Bedingungslos.
Als eine Art Umsetzung der bestehenden Menschenrechte. Natürlich wollten wir, dass alle Menschen daran teilhaben, mitmachen – eine bessere Welt (…).
Die Blaupause wurde verändert. Jetzt sind sie alle da. Die Politiker, die Unternehmen, die Medien, sogar der Papst. Natürlich versuchen sie alle die Blaupause zu ihrer Blaupause umzugestalten. Das haben sie immer so getan. Sie können gar nicht anders. Das ist ihr Job, ihre Haltung, ihr Denken. Das alles ist auch nicht weiter dramatisch.
Was für mich dramatisch ist, ist dass „wir“ uns (wieder einmal) diesen Entwicklungen anpassen. Auf einmal geht es immer weniger um unsere Vorstellungen. Wir lassen unsere Idee und Energie verpuffen, indem wir uns permanent damit beschäftigen, was die Anderen aus „unserer Idee“ machen. Ich denke, dass genau das der falsche Weg ist!
Warum?
Die Idee einer besseren Welt braucht die Bedingungslosikeit. Wenn wir jetzt anfangen eine große Idee zu beschneiden, uns anzupassen, dann werden – wenn es gut läuft – lediglich einige gute Ansätze übrigbleiben. Die Web 2.0 Idee endet mit ein paar nützlichen Apps, mit inflationär verwendeten Begriffen, wie Transparenz… Wertschätzung… (natürlich ohne Umsetzung). Das war’s. Mission Internet abgeschlossen. Ins bestehende System passgenau integriert. Blau. Pause.
Ein einfaches Ja!
Würde schon genügen, um die Veränderungen, die wir uns wünschen auch auf den Weg zu bringen. Nicht rückwärtsgewandt und dem Bestehenden trotzend, sondern in die (gewünschte) Zukunft blickend und einfach so handeln, als wären wir schon da!
Warum sagen wir immer Nein zu den Entwicklungen, die uns nicht passen (z.B. App-Silos, Facebook, Leistungsschutzrecht, Burnout, Versicherungen, Banken, Krisen, Parteienpolitik usw. usf.) und stecken alle Energie darein, diese zu verhindern, zu reformieren, aufzuhalten…
Was wäre, wenn…
wir stattdessen Ja sagen würden – Ja, zu einer Entwicklung, die wir uns wünschen? Was würde passieren, wenn wir (also ihr, die ihr euch auskennt) bspw. das Netzwerk Diaspora so umgestalten würden – wie ich es verstanden habe wurde es uns geschenkt – wie wir uns ein Netzwerk vorstellen?
Wir sind frei…
keiner zwingt uns die bestehenden Systeme zu nutzen und uns u.U. benutzen zu lassen. Das gilt auch für Lebensversicherungen und unseren Bankaccount. Wer von euch hat denn alles schon umgestellt? Sind wir alle schon zu sog. grünen und nachhaltigen Anbietern gewechselt? Noch nicht? Warum nicht?
Was ist mit dem Leistungsschutzrecht? Ich habe früher auch die Mainstreammedien nicht, oder nur selten gekauft. Klar lese ich gerne Artikel auf SpOn oder Zeit, oder… muss es aber nicht. Ich war früher auch informiert (sogar bevor ich das Netz für mich entdeckt habe). Sollen „sie“ doch Paywalls errichten, wenn sie uns nicht haben wollen, oder eine gute Idee präsentieren, die uns gefallen würde. Solange informieren wir uns dann (wieder!) bei denen, deren Blogs verwaisen.
Was ist mit der Politik? Piraten? Warum wird die vielbeschworene „Weisheit der Vielen“ nicht genutzt, um dem zu entkommen, was derzeit passiert: Die Anpassung einer guten Idee an ein (Parteien)System, was diese Denkweise und Haltung nicht akzeptieren kann und/oder möchte. Warum sprechen wir nicht darüber, welche Probleme auftreten und wie man diese lösen kann? Warum wird die Chance vertan und die gleichen Mechanismen (Ismen!) greifen, wie bei all den 1000en wunderbaren Ideen aus vorangegangenen Generationen?
Ich könnte jetzt auch noch die Themen Bildung, Arbeitsplätze der Zukunft usw. heranziehen – überall „same old same“: Die Ideen werden ohne Tiefe, also wirkliche Umsetzung von (…) in bestehende Systeme integriert. Haben ja jetzt alle eine Facebookseite: Unternehmen, Schulen, Unis – also gut ist?
Fazit
Wir versuchen uns anzupassen an das bestehende System und merken gar nicht, wie unsere Ideen verwässern, verpuffen, in Vergessenheit geraten. Mich macht das traurig und wütend zugleich – auf eine friedvolle Art und Weise. Denn mir geht es nicht darum über das System zu schimpfen, es schlecht zu machen, die Menschen, die sich jeden Tag für eine positive Entwicklung unserer Gesellschaft einsetzen herabzustufen.
Mir geht es darum Ja zu sagen, zu etwas Neuem. Nicht schon wieder eine Reform, eine Gesetzesvorlage zur Verbesserung von XY – sondern ein umdenken: Zukunft muss nicht die Verlängerung der Vergangenheit bedeuten. Zukunft kann (und für mich sollte sie das auch) etwas Neues bedeuten.
Neuland
– ein Land, in dem wir gerne leben wollen. Um dieses Neuland zu betreten, müssen wir es erst erschaffen. Tun wir das nicht und ruhen uns auf dem aus, was wir nicht wollen, dann wird die Zukunft immer eine reformierte Vergangenheit bleiben. Und neben allem anderen finde ich das langweillig und weit unter unseren Möglichkeiten…
Ich wünsche uns allen ein frohes neues Ja!
Anmerkung
Ich habe bewusst auf Verlinkungen zu den vielen gelesenen Texten verzichtet, die meine Gedanken hier beeinflusst haben. Es sind einfach zu viele Klicks und vor allem Erlebnisse des letzten Jahres, die mich zu diesem Text inspiriert haben…
Nach dem spektakulären paradigmenwechsel auf der makroebene gibt es unzählige veränderungen auf der mikroebene. Wer hätte vor zwei jahren gedacht, dass in vielen städten die stadtratsitzungen über live-stream von allen bürgern zu sehen wären mit entsprechenden reaktionen und (möglichen) einflussnahmen. Es bilden sich dann gruppen von bürgern, die „außerparlementarische“ opposition betreiben, quer durch alle parteien durch. Das ist zwar nur ein beispiel, aber es zeigt die auswirkungen bis zur basis hin. Die idee der „ressourcenorientierung“ setzt sich durch. Gruppen, die bisher am rand standen, werden einbezogen (inklusion). Alle diese initiativen werden nicht auf die digitalisierung zurückgeführt, aber die entsprechenden inklusionshaltungen haben sich auf dem hintergrund der digitalisierung entwickelt.
Fazit: die web20 szene wird zwar von den machtbesitzenden schichten besetzt, aber an der basis entwickeln sich ganz unbemerkt neue konzepte und experimente, die einestages zur überraschung aller emergieren werden.
Mein bescheidener beitrag dazu: https://jeanpol.wordpress.com/
Danke für deinen Beitrag. Dein Fazit kann ich bestätigen und diese Entwicklungen freuen mich natürlich sehr. Dennoch kann ich mich dem Eindruck nicht entziehen, dass wir hier von Reformen sprechen, die sicherlich etwas bringen, aber eben wenig Neuland.
Die Herangehensweise „think global, act local“ erscheint mir als eine Möglichkeit… Immerhin!
Danke zurück. Meine einschätzung war „ungeschützt“ und es freut mich zu sehen, dass du sie im großen und ganzen teilst…
die web20 szene wird zwar von den machtbesitzenden schichten besetzt.
Leider ist „Macht“ und „Aufmerksamkeit“ eine verdammt angenehme Droge… Allzu schnell wird man davon abhängig. Und die politischen Mandatsträger als Funktionäre, selber dem Rausch verfallen, wissen durch das Verteilen von kleinen Portiönchen ihren Einflussbereich zu sichern. Gar nichtmal in persona, sondern in der Art, wie das System an sich funktioniert.
Das war jetzt ein „Aber“… nicht Alex‘ Art. ‚Tschuldigung 🙂
Das Private ist das politische. Vielleicht erleben wir ja eine Renaissance des Spruches.
@Felix: Macht zu haben und damit menschenwürdig umzugehen, ist eine große Herausforderung an die Persönlichkeiten der „Innehabenden“. Im Kleinen kennst du das ja aus deinem Berufsalltag – doch es ist möglich!
Mit der Aufmerksamkeit verhällt es sich ähnlich: Aufmerksam um oder zu jedem Preis? Alles andere drumherum vergessen, nur um die Macht und damit auch die Aufmerksamkeit behalten zu können (oder umgekehrt)?
Was steckt da für ein Menschenbild dahinter? „Me, myself and I“ – Das kann nichts werden… (Zumindest nicht, wenn es um ein Zusammenleben in einer Gemeinschaft, Gesellschaft geht).
Mit dem Rausch (also nicht mit mir=) ist es doch so: wie bei jeder anderen Droge auch: Man will immer mehr bei gleichzeitig abnehmender Wirkung – derzeit schön im politischen Handeln zu erkennen:
Wie bei Süchtigen wird versucht immer mehr Stoff (Platzhalter für Geld, pol. Einfussnahme usw.) zu bekommen, egal was die Konsequenzen dafür sind…
Leider gibt es noch keine Therapien für dieses Suchtverhalten, geschweige denn Konsequenzen für dieses zerstörerische Verhalten Einzelner, die riesige Probleme für uns Co-Abhängige bereiten…